Schmerz ist Treibstoff - Autor: Andreas Kohl, Visions Nr. 70

 

Auf der Suche nach einer passenden Kategorie für die emotionalen Songgebilde der Kalifornier helfen Indikatoren wie Härte oder Pop-Appeal nicht weiter. Besinnt man sich jedoch auf den ursprünglichen Antrieb von Musikkonstruktion, wird man schnell fündig: Jud liefern das blanke Gefühl in seiner depressiven, aber auch optimistischen Reinheit.

Nennen wir es mal ganz vage, aber nichtsdestotrotz treffsicher Blues. Und dabei weckt gerade das neue Werk „Chasing California" alles andere als Assoziationen zu Beale Street oder Missisippi-Delta. Trotzdem hat die Herangehensweise sehr viel mit einer Attitüde gemein, die man sonst nur von schwarzen Musikern kennt: die Musik einzig und allein dazu zu benutzen, Gefühle mittels Songs zu artikulieren. David Clemmons, Songwriter und Sänger bei Jud, geht es genau darum: „Ich würde als erstes sagen, daß Jud immer genau das ist, was wir im Augenblick fühlen. Wir versuchen also nicht, irgendeine Richtung oder eine bestimmte Art und Weise des musikalischen Ausdrucks zu verfolgen, sondern es ist eher so, daß ich, wenn ich die Gitarre in die Hand nehme, bestimmten Gefühlen Ausdruck zu verleihen suche, die mich in dem Augenblick beschäftigen. Und wenn das gelingt, macht mich das froh. Ja, es ist sogar so, daß es mich regelrecht glücklich macht, wenn sich Melancholie, Düsternis und Brachialität in meinen Sounds wiederfinden. Und vor allem soll es einzigartig sein. Deshalb habe ich auch Probleme mit Vergleichen zu anderen populären Bands, weil ich dann sehe, daß ich mein Ziel nicht erreicht habe. Ich denke, daß das eine ganz natürliche Sache ist."

Für David geht diese Suche nach Einzigartigkeit so weit, daß er konsequent jegliche Trends ignoriert, keinen Fernseher besitzt und auch nicht Radio hört. Als äußerst positiver Nebeneffekt ergibt sich dadurch eine erstaunliche Reinheit der Musik von Jud. Ohne schmückendes Beiwerk oder äußeren Einfluß werden Jud zu einem Phänomen, das sich ausschließlich über ihre Musik definiert und im Umkehrschluß auch nur als Musik existieren kann. Die Einordnung als ‘real music’ trifft damit für David genau den Kern der Sache: „Danke Mann, das ist wahrscheinlich das größte Kompliment, das ich je bekommen habe. Aber du hast recht. Wir wollen uns wirklich nur auf diesen Output reduzieren." Logisch, daß ich mir bei so viel Verweigerungshaltung dann doch nicht die Frage nach gegenwärtigen Trend-Bands verkneifen kann. „Ich mag Deftones, ja, aber ich habe auch schon in anderen Interviews gesagt, wenn Mode, Kleidung und Fashion-Trends zum Bestandteil einer Kunst werden, macht mir das Angst. Ich kann mit Hipness nichts anfangen. Es ist vielleicht cool für Leute, die auf so was stehen, aber es hat rein gar nichts mit mir zu tun. Es ist, als ob man sich dahinter verstecken will. Ich möchte lieber ich selbst bleiben, für mich wäre es wirklich cool, wenn alle nackt herumlaufen würden. Musik ist, was allein zählt. Deshalb ist es für mich schwer, diese Bands zu hören."

 

 

Goodbye California - Autor: Andreas Kohl, Visions Nr. 98

 

Leipzig im Frühjahr 1999. David Clemmons von JUD steht auf der Bühne und hat gerade die letzten Takte von „Out“ in den Saal gefeuert, als er den Platz hinter dem Standmikro verlässt und an den vorderen Bühnenrand tritt. Er blickt, etwas düster, ein klein wenig genervt, aber keineswegs feindlich auf die erste Reihe Besucher, die etwa 2,50 von der Bühne entfernt wie gebannt dem Konzert folgen. David hebt seine Arme und vollführt mit beiden Händen leicht, fast unsichtbar, eine einladende Bewegung. Es passiert, was nach den überlieferten Gesetzen der Coolness eigentlich nicht passieren dürfte: das Publikum wälzt sich in ungewöhnlicher Einigkeit 2,50 m nach vorn, bis direkt vor die Bühne.

Eine bezeichnende Szene. David Clemmons hat es. Charisma, dieses gewisse Etwas, was einen Frontmann zu einem ebensolchen macht. Während sich andere Bands die Zähne am Wunsch, dem Publikum näher zu sein, ausbeißen, funktioniert diese Übung bei Jud immer. Ein gutes Jahr später beispielsweise erreicht David mit dem simplen Spruch: „Hey, wir sind 10.000 Meilen gereist, um euch zu sehen und jetzt steht ihr zwei Meter entfernt“ ebenfalls, dass sich die Meute bis ganz nach vorn drängt.

Jud ziehen in ihren Bann. Und das nicht nur live. Gerade erschien ihre vierte Platte „The Perfect Life“ - ein hervorragendes Album, das Jud ein weiteres Mal als unglaublich gut eingespielte Band präsentiert, die mit beiden Beinen in emotionalem Songwriting steht. Scheinbar also alles wie gehabt. Aber nur auf den ersten Blick, denn schon das für Jud-Verhältnisse sehr helle, optimistische Artwork der Platte macht klar: Etwas ist anders. Nicht nur im Sound. Die wichtigste Veränderung, die auch in Zukunft nachhaltigen Einfluss auf das Bandgeschehen haben wird, ist sicher der Umzug Davids von L.A. nach Berlin.

Er war müde vom American Way Of Life, der seine Kreativität beschränkte, dazu kam eine neue Beziehung. David bezeichnet diesen Schritt als „absolut notwendig, um nicht komplett vor die Hunde zu gehen“. In einem Friedrichshainer Eckcafe sitzt er mir gegenüber und vermittelt den Eindruck eines Zeitgenossen, der beständig auf der Suche nach dem persönlichen Glück ist, aber trotzdem immer wieder von einer nicht näher zu begreifenden Melancholie befallen wird.

Bereits in einem Interview vor drei Jahren äußerte er die Vermutung, dass gerade diese Phasen, die immer wiederkehren, Quell seiner Kreativität sind. Daran hat sich nichts geändert, wie er betont: „Musik ist für mich immer noch eine Art Therapie, um Gefühle zu verarbeiten und mit mir selbst zu diskutieren. Und wenn ich mich nicht besonders gut fühle, ist der Ansporn umso größer.“ Interessanterweise finden sich in diesem Zusammenhang auf „Perfect Life“ Songs, die bestimmte Ereignisse vor deren Eintreffen thematisieren und damit die Auseinandersetzung mit ihnen bereits vorwegnehmen.

Ein Beispiel ist der mit einem ungeheuren Schweinegroove ausgestattete Opener „Flake“, dessen Lyrics teilweise bereits vor vier Jahren entstanden. Im Song heißt es beispielsweise: „California keeps on flaking...“ und wenig später: „I’m living much easier without you...“. Eine klare Abrechnung mit Kalifornien, der Heimat von David, die er mit dem Umzug nach Berlin zurückließ: „Es ist wirklich interessant. Als ich diesen Song schrieb, war ein Umzug für mich eigentlich kein Thema. Ich hatte eine Familie, Freunde und was man eben braucht, um sich wohlzufühlen. Trotzdem nimmt der Song mein Goodbye eigentlich vorweg. Es kann auch sein, dass ich in einem sich ständig wiederholenden Kreislauf lebe. Manchmal habe ich dieses Gefühl. ‘Flake’ ist so ein Song, bei dem es mir kalt den Rücken runterläuft, wenn ich ihn jetzt singe und bemerke, dass er wahr geworden ist.“

Im Großen und Ganzen präsentieren sich Jud auf „Perfect Life“ um einiges optimistischer als auf den Vorgängern. Sicher, das Album lebt immer noch von einer gehörigen Portion deeper Melancholie, regelrechter Depression, wie sie noch auf der Akustik-EP „Innermission“ vorherrschte, wird hingegen wesentlich weniger Raum gegeben. In diesem Sinne ist der Titel natürlich ironisch zu verstehen, allerdings mit einem Augenzwinkern. Das hat laut David auch mit der immerhin fast zwei Jahre dauernden kreativen Pause zu tun, in der sich die Bandmitglieder anderen Beschäftigungen hingaben. So trommelte Hoss kurzzeitig bei Amen (!), und Steve widmete sich intensiv seinem Privatleben.

David selbst tourte mit seinem Zweitprojekt The Fullbliss und trat vereinzelt als Alleinunterhalter im Singer/Songwriter-Gewand auf: „Wir hatten außerdem alle unsere Jobs. Manchmal braucht man einfach ein bisschen Abstand, außerdem mag ich das Gefühl, rauhe Hände zu haben. Goddam, ich liebe körperliche Arbeit. Trotzdem haben wir uns über diese Zeit nicht aus den Augen verloren, sondern regelmäßig geprobt. Das war sehr befruchtend; du arbeitest dir den ganzen Tag den Arsch weg und wartest eigentlich nur auf den Abend, an dem du alles rauslassen kannst.“

Unter diesem Einfluss begaben sich Jud dann im Spätsommer 2000 auf eine Tour und gingen direkt danach ins Studio: „Mann, das war das Beste, was man sich vorstellen kann; eine Tour zu spielen und eigentlich bei jedem Konzert zu wissen, wenn das hier vorbei ist, hast du noch mal vier Wochen Studio vor dir. Das ist besser als Urlaub und wahrscheinlich auch der Grund, warum die Platte so gut geworden ist.“ Tatsächlich ist „Perfect Life“ dieser Befreiungsschlag anzuhören, denn nie waren Jud Groove-orientierter und kraftvoller.

Zwar waren ihre Platten allein durch Davids außergewöhnliches Organ und die Bass-Melodieführung von Steve Cordrey immer schon eine Klasse für sich, aber mit dem neuen Album liefern sie einen dermaßen homogenen Brocken von einem Album ab, dass eine große Zahl von wesentlich bekannteren Bands vor Neid erblassen dürfte. Fehlt eigentlich nur noch, dass endlich mal eine größere Menge Menschen Notiz von den Herren Clemmons, Cordrey und Wright nimmt. Immerhin spielen Jud sich seit Jahren den Arsch ab, hinterlassen regelmäßig runtergeklappte Kinnladen bei Konzertbesuchern und veröffentlichen großartige Platten - trotzdem kamen sie bisher nicht über den Status eines Geheimtipps heraus.

Solche Überlegungen lassen David jedoch eher kalt: „Natürlich würde ich gern richtig gut von meiner Musik leben, aber ich weiß nicht recht, was dann aus meiner Kreativität werden würde. Manche Leute werden mich vielleicht für verrückt halten, aber ich sehe es so: Rock’n’Roll, wie wir ihn heute kennen, stammt in direkter Linie vom Blues und Folk ab, die ein kreatives Aufbegehren gegen die Sklaverei waren. Was sagt uns das? Dort sind die Reichen und hier die Kreativen. Die ‘Reichen’ des Popbusiness, der Mainstream sind unser Feind, aber auch die Wurzel unserer Kreativität. Also werde ich den Teufel tun, mich darüber aufzuregen. Wir kämpfen auf unsere Weise dagegen. Und mal ganz davon abgesehen: Wenn ich diese ganzen Chart-Bands sehe, wie sie ihr Privatleben zur Schau tragen müssen, sich nicht mehr frei bewegen können und vielleicht auch gar nicht wollen - nein, da bleibe ich doch lieber klein.“

 

 

WITZENHAUSEN MEETS L.A. - www.wildwechsel.de

 

Tina Kruse, Mitinhaberin der Witzenhäuser Kneipe »Klampfe«, sieht sich in ihrer Kleinstadt mitten in der ehemaligen Zonenrand-Region in einem kulturellen Loch. "Wenn wir keine Konzerte veranstalten, läuft hier gar nichts," beklagt sie sich gegenüber dem Wildwechsel. Mit den von ihr engagierten Bands bringt sie Leben in den tristen Kleinstadtalltag - bei freiem Eintritt! So ist der für seine gute Stimmung bekannte Laden bei Publikum und Bands gleichermaßen beliebt. Vor zwei Jahren kam es hier zu einer schicksalhaften Begegnung: Die amerikanische Band JUD spielte. Nach einem gelungenen Konzert feierte man in der »Klampfe« den Geburtstag eines Tourbegleiters. Dabei freundete sich Tina mit den Jungs aus L.A. an: Sie ließen sich von ihr am nächsten Tag die Gegend zeigen und begeisterten sich wie viele Amerikaner an den vielen historischen Gebäuden, vor allem der Burg Hanstein.

Als die Gruppe einige Monate später wieder nach Deutschland kam und in Kassel spielte, gab es ein herzliches Wiedersehen. Tina begleitete die Band einige Tage im Tourbus. Dabei stimmte die sangesfreudige Witzenhäuserin auch mal einen JUD-Song an. Sofort gab es Komplimente von Sänger David Clemmons. Im April lud er sie dann nach Berlin zu den Studioaufnahmen des Unplugged-Albums »Inner Mission« ein. Obwohl sie eigentlich nur zum Zuhören erschienen war, bat er sie, doch mal probeweise ein Stück zu singen. Tina, die jahrelange Banderfahrung hat und deren Frauenband HYSTERIA auch über Witzenhausens Grenzen hinaus bekannt war, ließ sich nicht lange bitten. Bis früh in die Morgenstunden wurde noch an den Stücken gefeilt, dann mußten JUD sich beeilen, ihr Flugzeug nach Hause noch zu erreichen.

Als die CD im letzten Juni erschien, war Tina freudig überrascht, daß das Stück tatsächlich mit auf dem Album war. Bei einem Wiedersehen im August auf der PopKomm luden JUD Tina zu einem Besuch in L.A. ein. Als sie im Februar 98 tatsächlich dort erschien, arbeiteten die drei dort an ihrem aktuellen Album »Chasing California«. Die Instrumente waren bereits aufgenommen, aber es fehlten noch die Gesangsaufnahmen und der Mix. Von 20 Urlaubstagen verbrachte Tina 15 mit JUD-Mastermind David Clemmons im Studio. Dabei steuerte sie nicht nur ein faszinierendes Stück Sprechgesang mit der Nummer »Spam« bei, sondern nahm als musikalisch versierte Zuhörerin auch künstlerisch Einfluß auf die weitere Bearbeitung der Tracks. Sie hat offenbar gut gearbeitet: Das Album mit seinem kraftvollen Düster-Rock voll Sehnsucht und Melancholie ist ein echter Knaller geworden, der von allen Kritikern höchstes Lob erhielt (siehe auch »Neue Töne« im Ww 9/98). Im letzten Monat überzeugten sie damit auch im Kasseler »Spot« - nur schade, daß nur recht wenige Zuschauer in der großen Halle erschienen waren. Im Jahr zuvor war im rappelvollen »A.R.M.« weit mehr Stimmung aufgekommen! JUD ist zu wünschen, daß sie mit ihrem hervorragenden Album noch mehr Aufmerksamkeit erzielen. Wer sie noch sehen möchte, sollte sich den 25.10. vormerken: Dann wird die Band in Witzenhausen gemeinsam mit Tina live in der »Klampfe« auf der Bühne stehen - unplugged und bei freiem Eintritt! Tina betont allerdings, daß sie kein JUD-Mitglied ist und auch nicht werden will. Sie ist bei der Band allerdings ein gerngesehener Gast. Eine weitere musikalische Zusammenarbeit mit David Clemmons soll es auch in Zukunft geben.